Karin Schwarzbek

Karin R. fragt Karin S.

Text aus dem Künstlerinnenbuch "Sicherheit und Sichtbarkeit": Karin Rothfahl im Gespräch mit Karin Schwarzbek: 
Mai 2022

Karin R.: Wir haben vorher über das Textile gesprochen. Welche Bedeutung hat Stoff für dich?
Karin S.: In meiner künstlerischen Arbeit geht es oft um die Stofflichkeit eines Materials. Lange hat es mich beschäftigt, dass das gemalte Bild auf der Leinwand, also auf einem Stoff, sitzt – dass dieser Stoff eine Grundierung trägt, welche die Bemalung erst ermöglicht. Dass jede aufgetragene Farbschicht das Darunterliegende verdeckt, aber auch die Möglichkeit der weiteren Beschreibung in sich trägt. Die Leinwand ist ja auf einen Keilrahmen gespannt. Diese Spannung lässt das Tuch beim Malen mitschwingen. Wenn ich fest auf die Leinwand drücke, dann kann die Grundierung brechen und mit ihr das Bild. Ein gemaltes Bild ist ein Gegenüber, aber auch ein Objekt. Diese Auseinandersetzung mit dem Maltuch, das ich auch als Kleid für den Keilrahmen verstehe, dreht sich hauptsächlich um das, was ein Bild ist und sein kann.

Karin R.: Bekleiden verbinde ich mit dem menschlichen Körper, aber einen Keilrahmen bekleiden?

Karin S.: Für mich ist ein gemaltes Bild immer auch ein Körper. Vor ein paar Jahren habe ich begonnen, meine alten Ölmalereien vom Rahmen abzuspannen. Ich habe sie zusammengefaltet wie Kleidungsstücke, sodass man sie in Schränken hätte einlagern können – bereit, sie gegebenenfalls wieder herauszuziehen. Bei anderen Bildern habe ich die Farbschicht vom Maltuch abgezogen oder die nackte Baumwolle, das ungrundierte Maltuch, mit Öl eingerieben, bis es eine Stofflichkeit wie Haut aufwies. Später habe ich statt Leinentuch entfärbte Kleidungsstücke als Bild auf Keilrahmen aufgezogen. Das Offenlegen und Zurschaustellen des Stoffes hat sicher dazu beigetragen, dass der Begriff des Bekleidens in meine Arbeit hineingerutscht ist. Ein Stoff ist sehr anpassungsfähig und verwandelt sich in eine Hülle für Menschen, aber auch für Dinge oder Orte.

Karin R.: Dir geht es also darum, das Maltuch wie eine Verhüllung, wie eine Haut zu betrachten und zu erproben, wie diese Haut funktioniert, was man mit ihr alles machen kann.

Karin S.: Das stimmt, ich spiele damit. Einige Zeit arbeitete ich bewusst «gegen» die Leinwand, um Spuren zu provozieren. Ich wollte diese kleinen Verletzungen und Zeichen einfangen: die Erzählung, die über die Berührung zustande kommt, sichtbar machen – sodass das Bild vielleicht eine Art Erinnerung zeigen könnte.

Karin R.: Ich denke da an Tätowierungen, wenn du von Spuren sprichst. Beim Tätowieren wird der Körper zur Bildoberfläche. Auch die Kleider, mit denen du jetzt arbeitest, waren einmal auf der Haut und werden bei dir Bildoberfläche. Was für eine Rolle haben die Kleider für dich?

Karin S.: In der Malerei verstehe ich die Bildoberfläche als Reflexionsfläche, als Membran zwischen innen und aussen. Auch das Kleid hat diese Eigenschaft. Beim Stoff als Hülle ist die Funktion einer Grenze zwischen innen und aussen aber oft präsenter, als dass es ein Ding, ein Objekt ist. Stoffe begleiten mich in meinen alltäglichen Handlungen. Indem ich mich nun bildnerisch mit dem Kleid auseinandersetze, nehme ich Kontakt auf zur Aussenwelt, zur Gesellschaft. Der Stoff steht in Beziehung zum Körper, der zu verhüllen ist. In der Mode hat das textile Objekt eine andere Art von Botschaft. Es kommuniziert zum Beispiel, dass es schön ist und der Figur schmeichelt, und du stellst dir vor, wie du es trägst. Im Kleid muss nicht einmal jemand stecken, es verweist auch ohne den Menschen auf den Körper. Jedes Kleidungsstück ist aus einer Fläche genäht. Es ist Objekt und Oberfläche. Wenn ich Kleider auftrenne und diese als Tuch oder Bild wieder in die Fläche bringe, werden sie zu Relikten; sie erinnern an den Körper, den sie verhüllt haben.

Karin R.: Kleine Kinder haben oft ein Tuch bei sich – es dient als Übergangsobjekt, als Ersatz für eine Bezugsperson, die gerade nicht da ist. Aber auch Erwachsene können Stoff als materielles Verbindungsstück zu abwesenden Personen ansehen, zum Beispiel pilgern sie zum Grabtuch Christi.
Karin S.: Es interessiert mich sehr, dass es Dinge gibt, die diese Art von Vergegenwärtigung ermöglichen, nicht nur im religiösen Sinn. Ein Tuch oder Kleid trage ich nah am Körper. Es ist weich, es kann Gerüche oder auch Feuchtigkeit aufnehmen, zum Beispiel den Schweiss einer Person. Das Tuch konserviert Intensität, vielleicht auch Zeit. Wie kann sich Zeit oder Intensität in einem Objekt manifestieren oder sie speichern, sodass das Ding stellvertretend dieses Lebendige repräsentiert?

Karin R.: Es scheint geradezu ein anthropologisches Bedürfnis zu sein, dass man Objekte hat, die etwas von einer früheren Zeit oder einer Person konservieren, zum Beispiel eben Teppiche, Kleider oder Tücher. Du trägst ja auch ein Tuch.

Karin S.: Das Tuch erzeugt eine angenehme Temperatur und schützt mich vor der Sonne. Ich bedecke mich gerne mit Tüchern. Eine Verhüllung schafft auch einen ungestörten Raum. Dass man in einer Verhüllung aufatmen kann, kann ich gut verstehen.

Karin R.: Wenn etwas verhüllt ist, ist es nicht sichtbar. Eine Verhüllung bietet dadurch Schutz. Sie macht aber auch sichtbar: Je mehr man sich verhüllt, desto stärker fällt man auf. Der Blick wird auf die Verhüllung gelenkt, insbesondere wenn diese leuchtenden Stoffe ins Spiel kommen, wie du sie für deine Arbeit brauchst.

Karin S.: Ich habe entdeckt, dass ich meine künstlerischen Fragen gut anhand der leuchtenden Stoffe von Warnwesten abarbeiten kann. Der Stoff bietet durch seine farbliche Intensität eine enorme malerische Qualität. Dieser Farbe kann man sich nicht entziehen. Sie schmeisst einem das Licht entgegen, lässt einen abprallen, verweist dich auf Distanz. Da gibt es keine Nahbarkeit.
Wenn ich mit diesem Material in einem Innenraum arbeite, sind meine Augen danach oft überreizt, weil es keine Schattenwürfe gibt. Die Leuchtfarbe wandelt unsichtbare UV-Strahlen in Licht mit grösserer Wellenlänge um, sodass sie für uns sichtbar werden. Der Stoff gibt mehr Licht ab, als von aussen einfällt. Zudem repräsentiert der Stoff ein Phänomen aus der Mitte der Gesellschaft. Diese Farbe ist im Alltag allgegenwärtig. Kaum betrittst du den öffentlichen Raum, schon leuchtet dir die Farbe entgegen.
Vor zwei Jahren habe ich zum ersten Mal mit dem Material gearbeitet. Ich habe die Warnwesten aufgetrennt und die Schnitte neu zusammengesetzt. Als Meterware war dieser Stoff allerdings nicht zu beziehen. Warnwesten werden weit weg in billigster Produktion gefertigt. Ein Stück kostet gerade mal etwa zwei Franken.
Im Outdoor-Fashionbereich ist diese Farbigkeit auch unübersehbar, hat aber eine andere Qualität als bei den Warnwesten. Diese Funktionsstoffe sind technologisch auf dem neuesten Stand: Sie sind leicht und atmungsaktiv, trocknen schnell, haben ausgeklügelte Beschichtungen und sind dementsprechend teuer. Sie schützen dich vor Wind und Wetter, und wenn du alleine oben auf dem Berg bist und nicht mehr weiterkommst, dann leuchtest du, dass die Rega dich sieht und du gerettet werden kannst.
Kitas und Kindergärten markieren ihre Schützlinge auch immer häufiger mit Warnwesten. Durch die Markierung sind sie als fremdbetreute Gruppe, die zusammenbleiben muss, zu erkennen … Wenn ich unterrichte, trage ich auf dem Pausenplatz seit einem Jahr auch eine Warnweste.

Karin R.: Musst du sie tragen oder hast du dich dafür entschieden?

Karin S.: Es wurde so angeordnet. In der Pause habe ich den Auftrag, Konflikte zu schlichten und für Fragen bereitzustehen. Durch die Warnweste bin ich sichtbar als Ansprechperson.

Karin R.: Aber du als Erwachsene bist eigentlich bereits als Ansprechperson erkennbar und sichtbar. Du könntest stattdessen auch einen lustigen Hut tragen.

Karin S.: Ja, die Kennzeichnung durch die Warnweste ist eine Verdoppelung … Der Jogger, der am Fluss rennt, markiert sich ja auch mit dieser Farbe, selbst wenn er auf einem Feldweg rennt und gar nicht von einem Auto überfahren werden kann. Die Leuchtweste hat Signalwirkung und sagt: Achtung, du musst aufpassen.

Karin R.: Achtung kann einerseits bedeuten: Nimm dich vor mir in Acht. Aber andererseits auch: Ich bin in der schwächeren Position, zum Beispiel im Strassenverkehr.

Karin S.: Die Beratungsstelle für Unfallverhütung BFU empfiehlt: Sicherheit durch Sichtbarkeit. Für den Farbton und die Leuchtkraft der Bekleidung gibt es eine EU-Norm. Sie soll sicherstellen, dass die Trägerinnen und Träger bei allen Lichtverhältnissen so gut wie möglich wahrgenommen werden können. Damit die Sicherheitsstandards eingehalten werden, kommen Geräte zum Einsatz, welche die Strahlkraft der Westen prüfen. Als Verkehrsteilnehmerin bist du aufgefordert, dich zu markieren, so übernimmst du Verantwortung.
In unserem letzten Gespräch haben wir darüber gesprochen, dass du die Medikamente vor der Abgabe an die Patientinnen und Patienten häufiger kontrolliert hast als vorgeschrieben, dabei hätten weniger Kontrollen ausgereicht, um es «richtig» zu machen. Vielleicht geht es beim Tragen der Warnweste schlussendlich auch darum, dass du bestätigen kannst, dass du sie getragen hast, falls ein Unfall passiert.

Karin R.: Die Weste schützt einen im Strassenverkehr, aber diejenigen, die dich retten, wenn du im Strassenverkehr eben nicht gesehen wurdest, die tragen sie auch.

Karin S.: Und dann gibt es noch diejenigen, die eine Warnweste tragen, wenn sie sich sportlich betätigen. Sie haben sich selber entschieden, diese Leuchtfarben zu tragen, sich als «freizeitaktiv» zu markieren und sich so als produktives Mitglied der Gesellschaft zu erkennen zu geben. Auch in den DIY-Nähblogs werden Warnwesten-Schnittmuster für die Kinder geteilt – aber ich denke, da geht es nicht mehr um die Schutzwirkung und auch nicht um Fashion. Mein Verdacht ist eben, dass die Warnweste fast schon zu einer Art Tracht geworden ist. Durch das Tragen einer Uniform kann jemand seinen Beruf oder seine Position demonstrieren. Eine Uniform funktioniert als Zeichen.
Eine Tracht hingegen ist etwas, das gewachsen ist und durch die Übereinkunft des Gemeinsamen eine Dazugehörigkeit bezeichnet. Die Tracht hat Elemente, die vielleicht früher einmal sinnbildlich für etwas gestanden haben, jetzt aber zur Gewohnheit geworden sind. Es scheint Menschen zu geben, die ihre Warnweste und den leuchtenden Velohelm wie eine zweite Haut tragen und mit ihrer Montur überall hingehen, zum Einkaufen genauso wie etwa zum Impfen.

Karin R.: Ich frage mich, was die Verbindung zwischen diesen verschiedenen Verwendungen von Warnwesten ist: deine Situation auf dem Pausenhof, der Jogger, das Kindergartenkind oder jemand, der im öffentlichen Dienst arbeitet.

Karin S.: Die Verbindung ist vielleicht, dass man sich durch die Warnweste als teilhabendes und eben sichtbares Mitglied einer sicheren Gesellschaft markiert. Warnwesten repräsentieren ein Sicherheitsdenken, das sich über Sicherheitsstandards und ihre Bestimmungen definiert.

Karin R.: Du hast vorher die Zeitlichkeit betont: Es ist jetzt Zeit, dir auf dem Pausenhof Fragen zu stellen. Es ist jetzt Zeit, sich körperlich zu ertüchtigen. Es ist jetzt Zeit, dass ich zum Beispiel als Sanitäterin zur Verfügung stehe … Stell dir vor, letzte Woche habe ich eine von diesen leuchtorangenen Mützen gekauft, deinetwegen. Es ist erstaunlich: Ich werde deutlich mehr angeschaut, wenn ich sie anziehe. Die Leute sind irritiert, wenn sie mich mit der Mütze sehen. Wir haben darüber gesprochen, dass ein Stoff einen an etwas teilhaben lässt – eben als Erinnerungsstück, als Präsenzobjekt. Vielleicht könnte man es so sehen: Die Leuchtkleidung erinnert mich selbst und die anderen daran, dass ich wichtig bin.